Akademie 2023: Individuum und Gemeinschaft
Vom 6. bis 10. September 2023 fand zum vierten Mal die interdisziplinäre Sommerakademie fideliter intellegens statt. Im Benediktinerstift Ottobeuren tauschten sich katholische Doktoranden aus Deutschland, Österreich und der Schweiz fünf Tage lang zum Thema „Individuum und Gemeinschaft“ aus und nahmen am geistlichen Leben des Klosters und am von P. Winfried Schwab OSB geleiteten geistlichen Programm teil. Organisiert wurde die Veranstaltung über den Verein fideliter intellegens e.V. und geleitet von Dr. Thomas Kieslinger und Dr. Reinhild E. Bues.
Das bewusst sehr breit gehaltene Thema bot allen Teilnehmern die Chance, ausgewählte Schwerpunkte ihrer aktuellen Forschung in kleiner Runde zu präsentieren und zu diskutieren. Gleichzeitig befeuerte die zwar in diesem Jahr stark geistes- und sozialwissenschaftlich orientierte, aber dennoch akademisch heterogene Zusammensetzung der Gruppe den regen interdisziplinären Austausch. Insbesondere die vielseitige Konkretisierung des Themas „Individuum und Gemeinschaft“ in den verschiedenen wissenschaftlichen Bereichen führte zu fruchtbaren Diskussionen.
Als erster Teilnehmer präsentierte Sebastian Krockenberger seine vergleichende Forschung zu Sakralität und sakralem Königtum im christlichen Europa und deren Anwendung auf das Kaiserverständnis im Japan des 19. und 20. Jahrhunderts. Er stellte dar, wie das sakrale Verständnis der kaiserlichen Figur das Zusammenspiel von Individuum und Gemeinschaft in der japanischen Gesellschaft verbindet.
Nach einer dadurch angestoßenen Diskussion über die begrifflichen Komplikationen und soziologischen Konnotationen, führte der folgende Vortrag von Felix Timmer in die Ideenwelt des 12. Jahrhunderts ein. Er entfaltete die ideengeschichtliche Entwicklung von Individuum und Gemeinschaft und stellte dar, wie sich daraus nicht nur philosophisch, sondern auch gesellschaftlich die Grundlagen der folgenden Jahrhunderte entwickelten. Insbesondere der Begriff der Individualität in ihrer sozialen Dimension wurde dabei über diese historische Dimension hinausgehend diskutiert.
In seiner Keynote “Pilgern im Mittelalter – Heilssuche in oder neben der Gemeinschaft?” , brachte Professor Dr. Klaus Herbers eine neue Dimension in die Diskussion ein und schaffte es gleichzeitig mit zahlreichen historischen Anekdoten die abstrakte Diskussion zu verlebendigen und zu konkretisieren. Am pilgernden Menschen treffen gewissermaßen die Hintergründe, Umstände, Forderungen und Paradigmen der Gemeinschaft im Individuum zusammen. Durch die Entwicklung der Pilgerschaften als Massenbewegung formten und dynamisierten ebendiese pilgernden Individuen jedoch wiederum die Gesellschaft. Diese Spannungsfelder konnten im Anschluss an die Keynote aus den verschiedenen disziplinären Blickwinkeln weiter diskutiert und vertieft werden.
Eine der intensivsten Diskussionen schloss sich an den Vortrag von Johanna Merz an. Sie forderte in ihrer rechtsphilosophischen und sprachlichen Analyse der Entwicklung des Begriffs von Recht die Selbstverständlichkeit der Verwendung desselben heraus. Dabei machte Sie anhand ihrer Darstellung des Zusammenhangs von Individuum und Gemeinschaft im modernen Rechtsverständnis die Unzulänglichkeit dieses Begriffes deutlich.
Nach dieser sehr grundlegenden Diskussion führte Heinrich Heidenreich in seiner Darstellung des Prosarhythmus bei Urban II. die Diskussion in konkretere historische Gefilde. Nach einer sehr anschaulichen Einführung in die philologische Materie, stellte er dar, wie in der Produktion der Prosarhythmen in Urkunden geniale Individuen in einem Wechselspiel mit gut eingespielten Kollektiven von Urkundenschreibern und –empfängern gearbeitet haben. Überdies wurde dabei die Rolle der Rezipienten für die Schöpfung und Wiederentdeckung der Rhythmen diskutiert.
Der Samstag wurde durch einen theologischen, jedoch stark interdisziplinär ausgerichteten Vortrag von Jonas Klur über die Frage der moraltheologischen Relevanz von Emotionen und Gefühlen eingeleitet. Anhand der Theorien von Martha Nussbaum und Hermann Schmitz deutete Klur dabei die verschiedenen Theorien und Fragestellungen, die sich aus der Einbindung der Emotionen in moralphilosophische Fragestellungen ergeben. Die rege Diskussion der Thematik drehte sich dabei nicht nur um den Einfluss der (Medien-) Gesellschaft auf die Emotionen des Individuums, sondern insbesondere auch um die Frage der Emotionalität einer Gemeinschaft und den damit verbundenen Chancen und Gefahren.
Danach präsentierte Sarah Lorenz ihre Forschung zur päpstlichen Flotte und Marinepolitik des 15. und 16. Jahrhunderts. Sie stellte dabei auf einer Makroebene die Frage, ob der Papst hier eigenständig politisch agierte, oder die Flotte als Teil von Gemeinschaftsaktionen, insbesondere den Kreuzzügen nutzte. Auf der Mikroebene zeigte sie auf, wie sich anhand der Herstellung und Bemannung der Galeeren eine ganze gesellschaftliche Infrastruktur ausmachen lässt. Anhand der betrieblichen Abläufe machte sie das moderne Zusammenspiel von arbeitendem Individuum und gemeinschaftlichem Großprojekt deutlich und stieß damit eine Diskussion an, welche diese Fragen über die rein historische Perspektive hinausführte.
Dr. Veronika Lütkenhaus schloss die Vorträge der Teilnehmer mit einer sprachwissenschaftlichen Herausforderung der modernen Rezeptionstheorie ab. Sie zeigte dabei in dem Widerspruch zwischen der Überfokussierung auf die Autorenintention und der völligen Subjektivierung einer Textbedeutung einen dritten möglichen Weg auf, welcher die Bedeutung des Textes in einem Gegenüber von Logos und Individuum findet. Ihre Thesen führten zu lebhaften Diskussionen zu Fragen der Rezeption von Literatur und ausgehend davon auch zur Bedeutung dieser Problematik für die textbasierten Wissenschaften im Allgemeinen. Dabei fand die Thematik von Individuum und Gemeinschaft durch in diesem Spannungsfeld von subjektiver Wahrnehmung, objektiver Bedeutung und sich daraus ergebender gemeinschaftlicher Realität eine neue Dimension.
Den Abschluss fand der wissenschaftliche Teil der Akademie in der zweiten Keynote, von Dr. Sebastian Ostritsch, welcher Individuum und Gemeinschaft aus hegelianischer Perspektive darstellte. Sein Vortrag zum Thema „Individuum und Gemeinschaft: Naturrecht – Dialektik – Liebe“ bot dabei nicht nur eine Einführung in Hegels Denken, sondern davon ausgehend eine Analyse des dahinterstehenden Ideenkonstrukts.
Die Untrennbarkeit des Individuums aus der normgebenden Gemeinschaft, welche für Hegel gleichzeitig konkrete Verpflichtung für subsidiare Unterstützung des Individuums durch die Gesellschaft impliziert, verglich Ostritsch dabei mit den Ideen der sich fast gleichzeitig herausbildenden Katholischen Soziallehre und konnte gerade in der Konsequenz beider Denksysteme überraschende Parallelen aufzeigen. Die angeregte Diskussion rundete dabei die Erarbeitung des Jahresthemas philosophisch ab.
Noch anschaulicher wurde diese Diskussion in der Präsentation der Forschungen von Cornelia Bäurle, welche die Badezimmerdekorationen des frühen 16. Jahrhunderts in Rom und Umland untersuchte. Die meist aus klerikaler Auftraggeberschaft kommenden Antikerezeptionen bieten dabei, wie Frau Bäurle deutlich machte auf verschiedene Weise Anhaltspunkte für Diskussionen dazu, wie hier Individuen intime Räume geschickt als Mittel ihrer gesellschaftlichen Positionierung einsetzen.
Am Freitagabend führte nun schon in guter Tradition der Akademie der Gastgeber in Stift Ottobeuren, Abt Johannes Schaber anhand des Jahresthemas ein Gespräch mit den Teilnehmern, welches über philosophische Aspekte hinaus auch die geistliche und spirituelle Dimension von Individuum und Gemeinschaft beinhaltete. Dabei wurde in besonderer Weise die wechselseitige Abhängigkeit vom einzelnen Mönch und der monastischen Gemeinschaft angesprochen.